Die Schicksalsballaden des Codex Chantilly – Höfische Musik aus dem späten Mittelalters
Hé, tres doulz roussignol – Borlet
O bonne douce Franse – Anonym
Se Geneive, Tristan – Cunellier
Plus ne put musique – Anonym
Hélas, je voy mon cuer – Solage
La harpe de mellodie Jacob de Senleches
Passerose de beauté – Trebor
Puis que je sui fumeux – Johannes Symonis Hasprois
Ung Lion say – Anonym
Un crible – A Dieu vos comant – Anonym
Je ne puis avoir plaisir – Anonym
Se Zephirus – Se Jupiter – Grimace
Belle, bonne, sage – Baude Cordier
Tout par compas – Baude Cordier
Toute clerté – Anonym
Ma douce amour – Johannes Symonis Hasprois
De ce que foul pense – Pierre Molins
Des que buisson – Grimace
Die CD erscheint am 6.3.2020 beim Label conditura records, LC 30277. Sie kann zum Preis von 22 € (incl. Versand) direkt über kontakt@faust-peters.de bestellt werden.
„Ach, ich sehe mein Herz an sein Ende gelangen
wegen seiner Sehnsucht nach dem Geschenk der Liebe“
Eine Annäherung an den Codex Chantilly
Viel wurde in den vergangenen Jahren geforscht und geschrieben über diese Sammlung spätmittelalterlicher Musik. Man spekulierte darüber, wessen Hände an der Ausfertigung des prächtigen Manuskrips beteiligt waren und wer den Auftrag zur Zusammenstellung dieser Musik gab. Man fragte sich, ob Baude Cordier selbst Veränderungen an der Sammlung vornahm – der Komponist, dessen zwei Werke aufgrund ihrer ungewöhnlichen graphischen Notation weltberühmt wurden. Musikwissenschaftler rätselten darüber, warum die ersten Seiten dieser Sammlung fehlen und welche Personen sich hinter manch einem Komponistennamen verbergen. Diverse Anschauungen darüber kursieren. Eindeutige Antworten gibt es nicht.
Unser Zugang ist ein sehr persönlicher, wir wollen beschreiben, wie diese Handschrift uns in den vergangenen Jahren begleitet hat, wie sie uns inspiriert und gefordert hat.
Beschäftigt man sich mit der Musik des ausgehenden Mittelalters, dann begegnet man fast unvermeidlich immer wieder Werken aus dem Codex Chantilly. Diese Sammlung von über 100 Stücken verschiedenster Komponisten ist ein grandioses Beispiel für die unglaublich vertrackte mehrstimmige Tonkunst Ars Subtilior, die in ihrer rhythmischen Komplexität viele Werke davor und bis hinein ins 20. Jahrhundert in den Schatten stellt. Unter den Auftraggebern für diese Werke waren sowohl französische Könige und Fürsten als auch die in Avignon residierenden Päpste und Gegenpäpste.
Einige dieser Stücke begleiten uns seit Jahren und haben von ihrer Faszination auf uns seither nichts eingebüßt. Und sie sorgen auch nach etlichen Aufführungen in Konzerten immer wieder für Diskussionen zwischen uns, fordern neue Ideen und wollen noch verändert werden. Das anonyme Stück ung lion say beispielsweise erhielt von verschiedenen Mittelalterexperten die unterschiedlichsten Vorschläge hinsichtlich der Vorzeichen, die in dieser Epoche nur teilweise zwingend vorgeschrieben sind. Auch unsere Version mag hier als ein weiterer Vorschlag gelten, der keinen Anspruch auf alleinige Richtigkeit erhebt und möglicherweise auch bei uns weiterhin verändert wird. Die Musikwissenschaft nennt das die musica ficta causa pulchritudinis, eine veränderte Musik um der Schönheit willen. Beinahe jede Musik aus dieser Zeit erfordert derartige Tonhöhenveränderungen, eine Einladung zu eigenen Lösungen in dieser Fülle findet man sonst so häufig allerdings nicht.
Der offensichtliche Wettstreit der Komponisten um die komplexeste, subtilste Musik bedeutet nach unserer Überzeugung nicht, dass die Musik theoretisch, verkopft oder errechnet klingen soll, so wie das einige Musikwissenschaftler noch vor etlichen Jahren glaubten. Mancher vertrat die Meinung, die im Codex vertretenen Stücke seien unspielbar, also ein reines Gedankenkonstrukt. Uns hingegen interessiert besonders der gesangliche Aspekt vieler Werke und fordert uns dazu heraus, Lösungen zu finden, die in Besetzung und Tonlage unserem Ensemble entsprechen und die auch das Publikum berühren. „Sehr hat die Süße, Freundliche (Musik) gelitten…“ beschwert sich der Text von Plus ne put musique über einfältige, simple Kompositionen und fordert gerade auch in intelligenter, komplexer Musik die suavitas, die Süße.
Wir haben hier und da im Stil der Zeit eigene Stimmen hinzugefügt, so bei Hélas, je voy mon cuer ein eigenes Triplum (zu einigen Stücken existieren in verschiedenen Quellen verschiedene Tripla) oder eine eigene Diminution zu Belle Bonne Sage. Bei De ce que foul pense konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, eine Diminution aus dem ebenfalls berühmten Codex Faenza an Pierre de Molins Ballade anzuschließen, können Musiker doch in dieser Quelle dankbar Beispiele virtuoser Diminutionspraxis des ausgehenden Mittelalters studieren.
Beim Lesen der Texte unserer Stückauswahl waren wir besonders fasziniert von den Werken, in denen die blinde Schicksalsgöttin Fortuna ihre Hand im Spiel hat: Wie immer in dieser Zeit dreht sie ihr Rad stets nach unten und bereitet dem unglücklich Liebenden bitteren Schmerz: „He! Fortuna! Du machst Dich verhasst (…) durch Dein Rad, das das Gute zugrunde gehen lässt und leichte Freude und Spiel in Tränen verwandelt“. Obwohl man ähnlichen Texten über die unerfüllte Liebe im ausgehenden Mittelalter auf Schritt und Tritt begegnet, haben wir diesen anklagenden Balladen und Virelays solche über die glückliche Liebe gegenübergestellt. Etliche Male wiederum entschieden wir uns für instrumentale Versionen.
Es ist sicher kein Zufall, dass in den vergangenen Jahren mehrere CDs mit Musik ausschließlich aus dem Codex Chantilly erschienen. Und es spricht für die außerordentliche Qualität der Kompositionen, dass es hier überraschend wenige Überschneidungen in der Werkauswahl gibt. Doch selbst bei gleichen Titeln begegnet man bei jedem Ensemble einer eigenen Auslegung desselben Notentextes. Und so möchte auch Fortuna Canta eine persönliche Interpretation eines Ausschnittes aus dieser einmaligen Handschrift beisteuern und damit zum Verständnis und Genuss dieser Musik beitragen, sei sie nun rätselhaft, kraftvoll, schillernd, liebenswert, verzweifelt oder beschwingt.
Holger Faust-Peters